Bombardierung und Beschuss von Wohngebieten in der Ukraine: Die hohen zivilen Opferzahlen im Überblick
Seit bereits über zweieinhalb Jahren herrscht Krieg in der Ukraine. In dieser Zeit sind zahlreiche Einsätze von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) verzeichnet worden, die schwerwiegende Folgen für die Zivilbevölkerung haben. In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass es eine steigende Tendenz beim Beschuss von bewohnten Gebieten gibt.
Zuletzt geändert am 10. Oktober 2024
Allein im Juli wurden laut dem EWIPA-Monitor 339 Vorfälle in der Ukraine registriert, womit dieser Monat mit mindestens 1.237 zivilen Opfern – 219 Tote und 1.018 Verletzte - der tödlichste seit Oktober 2022 war. Zusammen mit den Vorfällen vom August 2024, dem Monat mit den zweithöchsten Opferzahlen des bisherigen Jahres 2024, sind 2.277 zivile Menschen verletzt oder getötet worden.
Auch kritische zivile Infrastruktur wie Energieanlagen in den Außenbezirken der Städte wurden in den vergangenen neun Monaten stark zerstört.
Die von der Russischen Föderation eingeleitete Bodenoffensiven in der Region Charkiw in der ersten Jahreshälfte 2024 sowie kürzlich in Donetsk sind mit einer Intensivierung der Luftangriffe der russischen Streitkräfte mit Raketen, Lenkbomben und bewaffneten Drohnen auf zivile Infrastrukturen einhergegangen, die der Zivilbevölkerung großes Leid zufügen Im August sind die ukrainischen Streitkräfte in die Oblast Kursk auf russischem Territorium eingedrungen und gaben an, ein Gebiet von über 1.000 Quadratkilometern und mehr als 100 Siedlungen zu kontrollieren.
Bombardierung und Beschuss von Städten und Dörfer führen nicht nur zu Todesfällen und kriegsbedingten Verletzungen, sondern auch zu schweren psychischen Traumata. Dies erhöht den Bedarf an Rehabilitationsmaßnahmen, psychologischer und psychosozialer Unterstützung sowie anderen Versorgungsleistungen. Zudem haben sie weitreichende Folgen für die Zivilbevölkerung in Bezug auf den Zugang zu wichtigen Dienstleistungen, zur Gesundheitsversorgung sowie zur Nahrungsmittel- und Energieversorgung. Nicht explodierte Überreste von Explosivwaffen stellen während und lange nach Beendigung der Kampfhandlungen eine ständige Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar und behindern die sichere Rückkehr von Geflüchteten und Vertriebenen.
Wie in allen Konflikten sind auch in der Ukraine die schwächsten Gruppen unverhältnismäßig stark von Explosivwaffen betroffen, insbesondere Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. Die Zerstörung kritischer Infrastrukturen wie Häuser, Schulen und Krankenhäuser bedroht das Überleben und Wohlergehen von Kindern auch Jahre nach dem Ende der direkten Kampfhandlungen.
Handicap International (HI)fordert die Konfliktparteien auf, den Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten einzustellen, und Russland und die Ukraine, der Politischen Erklärung über die Stärkung des Schutzes der Zivilbevölkerung vor den humanitären Folgen des Einsatzes von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten beizutreten und Maßnahmen zu ergreifen, um ihren Verpflichtungen unverzüglich nachzukommen, einschließlich der Einschränkung und des Verzichts auf den Einsatz von Explosivwaffen in bewohnten Gebieten, wenn davon auszugehen ist, dass ein solcher Einsatz zivilen Personen und ziviler Infrastruktur Schaden zufügt.
Bis heute haben 87 Staaten die Politische Erklärung gebilligt, die Änderungen in der Militärpolitik und -praxis fordert, um den Schutz der Zivilbevölkerung durch die Einschränkung des Einsatzes von Explosivwaffen zu verbessern. In der Erklärung wird auch zur Unterstützung der Opfer und zum schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen aufgerufen, der in der Ukraine zunehmend verweigert wird.
Die Zunahme der Gewalt und der Angriffe verstößt unerbittlich gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen, einschließlich der Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Unterscheidung, der Verhältnismäßigkeit und der durchführbaren Vorsichtsmaßnahmen, des Einsatzes wahlloser Angriffe und des Einsatzes international verbotener Waffen wie Landminen und Streumunition. Die gesammelten Beweise deuten auch auf Angriffe auf Zivilist*innen und zivile Objekte, einschließlich Gesundheitseinrichtungen und andere wichtige zivile Infrastrukturen, sowie auf Angriffe auf medizinisches und humanitäres Personal hin.
Folgende besonders schwerwiegende Vorfälle des Einsatzes von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten, die zum Tod oder Verletzungen von Zivilist*innen im russisch-ukrainischen Krieg führten, wurden basierend auf den Berichten der UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine bisher im Jahr 2024 verzeichnet. Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Auflistung aller Vorfälle des Jahres 2024, sondern um eine Auswahl, die aufgrund der besonders gravierenden Auswirkungen auf zivile Personen und Infrastruktur getroffen wurde.
Januar 2024
- Insgesamt wurden 50 Zivilist*innen bei Angriffen getötet (26 in Kiew, Charkiw und weiteren Städten und Dörfern; 24 in der Stadt Donezk). Zudem wurden in Pokrowsk und Riwne, in der Region Donezk, Mitglieder zweier Familien getötet.
- 211 zivile Personen wurden dabei verletzt (190 in Kiew, Charkiw und weiteren Städten und Dörfern; 10 in Pokrowsk und Riwne; 11 in Donezk).
- 2 Jungen werden seit dem Angriff in Pokrowsk und Riwne vermisst.
- Die Angriffe trafen auch zwei Märkte und ein Wohngebiet in der Stadt Donezk.
Februar 2024
- Mindestens 10 Zivilist*innen wurden getötet (7 in Charkiw ; 3 in Selydove in der Region Donezk). Ein Drohnenangriff tötete zudem eine gesamte Familie in Nova Sloboda in der Region Sumy.
- Mindestens 4 zivile Personen wurden bei einem Angriff auf ein zentrales Krankenhaus in Selydove verletzt.
- Zudem wurden bei einem Angriff auf eine Bäckerei und ein Café in Lysychansk, in der Region Luhansk, mindestens 13 Zivilist*innen getötet und verletzt.
- Die 7 zivilen Todesopfer in Charkiw sind die Folge eines Angriffs mit Loitering Munition auf eine Tankstelle in einem Wohngebiet der Stadt, der zu einem Großbrand führte und mindestens 15 Wohnhäuser zerstörte.
März 2024
- Mindestens 17 Zivilist*innen wurden getötet (11 in Odessa Anfang des Monats; 6 in Krywyj Rih). Bei dem Angriff in Odessa mit Loitering Muntion verloren zudem 3 Familien mindestens 2 ihrer Angehörigen. Dieser Angriff war noch dazu der tödlichste für Kinder in mehr als neun Monaten.
- 33 zivile Personen wurden außerdem verletzt (8 in Odessa; 25 in Krywyj Rih).
- Mitte März gab es erneut zahlreiche zivile Opfer in Odessa in Folge zweier dicht aufeinanderfolgender Raketenangriffe. Dabei wurden mindestens 20 Zivilist*innen getötet oder verletzt, darunter Rettungskräfte und medizinisches Personal, die nach dem ersten Angriff zur Hilfe geeilt waren.
April 2024
- 19 Zivilist*innen wurden getötet (4 in Saporischschja; 8 in mehreren Städten in der Region Dnipropetrowsk; 7 in Odessa). Einer der Angriffe in der Region Dnipropetrowsk tötete zudem 4 Mitglieder einer Familie, darunter 2 Kinder, und hinterließ einen verletzten 6-jährigen Jungen als Waise.
- 49 Personen aus der Zivilbevölkerung wurden in Saporischschja (27) – darunter auch Journalist*innen – und mehreren Städten in der Region Dnipropetrowsk (22) verletzt. Dutzende weitere in Odessa.
- Die verletzten und getöteten Zivilist*innen in der Region Dnipropetrowsk sind auf Angriffe mit Raketen und Loitering Munition auf die Eisenbahninfrastrukturund deren Umgebung zurückzuführen.
- Für die zahlreichen Toten und Verletzten in der Stadt Odessa ist mutmaßlich der Einsatz von Streumunition verantwortlich, die eine Strandpromenade in der Stadt traf.
Mai 2024
- 41 Zivilist*innen wurden bei mehreren Angriffen getötet (6 in Tscharkaska Losowa in der Region Charkiw; 35 in Charkiw)
- Mindestens 128 Personen wurden verletzt (13 in Tscharkaska Losowa115 in Charkiw).
- Die Toten und Verletzten in Tscharkaska Losowa in der Region Charkiw sind die Folge zwei aufeinanderfolgender Angriffe auf ein an einem See gelegenes Erholungszentrum.
- In der Stadt Charkiw wurde nicht nur das Stadtzentrum selbst, sondern auch ein Mehrfamilienhaus in einer Wohnsiedlung, eine Druckerei und ein Baumarkt getroffen. Unter den Opfern sind daher viele Mitarbeitende der Druckerei und des Baumarkts.
Juni 2024
- Mindestens 19 Zivilist*innen wurden getötet (11 in Krywyj Rih in der Region Dnipro; 4 in Charkiw; 3 in der Stadt Dnipro).
- Des Weiteren wurden mindestens 117 Zivilist*innen verletzt (28 in Krywyj Rih; 12 in der Region Poltawa; 59in der Stadt Charkiw; 18 in einem Hochhaus in Dnipro).
- Die zivilen Opfer in Folge der genannten Vorfälle sind auf Raketenangriffe zurückzuführen, die Wohngebiete und Wohnhäuser trafen.
Juli 2024
- Mindestens 58 Zivilist*innen wurden getötet (über 5 in der Stadt Dnipro; 5 in der Stadt Selydove; mind. 42 am in Dnipro, Kiew und Kryvyi Rih; 2 in Budy, Oblast Charkiw; 4, darunter 1 Kind, in Mykolaiv bei einem Raketenangriff auf Hochhäuser und einen Spielplatz).
- Darüber hinaus wurden mindestens 293 Zivilist*innen verletzt (über 49 in der Stadt Dnipro; 15 in der Stadt Selydove; mind. 190 in Dnipro, Kiew und Kryvyi Rih; 25 in Budy, Oblast Charkiw; 14 in der Stadt Mykolaiv)
- Bei Angriffen am 8. Juli auf mehrere bewohnte Gebiete in Dnipro, Kiew und Kryvyi Rih wurde auch das Nationale Kinderkrankenhaus Okhmatdyt in Kiew, das größte in der Ukraine, schwer beschädigt.
August 2024
- Mindestens 43 Zivilist*innen wurden getötet (mind. 12 im russischen Oblast Kursk; 14 in Kostjantyniwka; 1 Journalist in Kramatorsk bei einem Angriff auf ein Hotel; mind. 8 in mehreren bewohnten Gebieten; 8 in Charkiw).
- Außerdem wurden mindestens 294 zivile Personen verletzt (mind. 212 im russischen Oblast Kursk; 44 in Kostjantyniwka; 6 in Kramatorsk; über 23 in mehreren bewohnten Gebieten; über 100 bei fünf gelenkten Luftangriffen in Charkiw)
- Die Toten und Verletzten in Kostjantyn sind die Folge eines Angriffs, bei dem der Supermarkt „Ekomarket“ getroffen wurde.
- Am 26. August wurden mehrere bewohnte Gebiete mit 236 Raketen und Drohnen angegriffen, was den größten Luftangriff auf die Ukraine seit Februar 2022 darstellt.
September 2024
- Es wurden mindestens 77 Zivilist*innen getötet (eine Person in Charkiw; 2 in Saporischschja; mind. 50 in Poltawa; mind. 7, davon 2 Kinder, in Lwiw; mind. Eine Frau in der Stadt Ramenskoje in der Region Moskau; 3 in der Region Donezk; 3, davon 1 12-jähriger Junge, in Kryvyi Rih; mind. 10 in Sumy).
- Mindestens 452 zivile Personen wurden verletzt (mind. 87 in Charkiw, davon mind. 5 Kinder; 20 in der Stadt Saporischschja, davon 2 Kinder; sechs in Dnipro; 270 in Poltawa; 64 in Lwiw; 2 in der Region Donezk; 3 in Kryvyi Rih).
- Die hohe Zahl der Verletzten in Poltawa kam durch den Einschlag von 2 ballistischen Raketen in ein Krankenhaus zustande.
- Am 12. September wurde ein humanitärer Konvoi des IKRK in der Region Donezk angegriffen, wobei Mitarbeiter von Hilfsorganisationen getötet und verletzt wurden.
- In Sumy kam es am 28. September im Abstand von 45 Minuten zu zwei aufeinanderfolgenden Angriffen auf ein Krankenhaus.
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